Beziehung zu D. Wilhelm Freiher von Pechmann
Zu den bemerkenswertesten Vorgängen in der Amtszeit Meisers gehören die Auseinandersetzungen mit Baron von Pechmann. Nach dem Urteil der gegenwärtigen Geschichtsbetrachtung in der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Bayern zählt er zu den ganz großen Gestalten dieser Kirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine vielseitige Begabung und sein geradliniges respektheischendes Wesen führte ihn in zahlreiche wichtige Ämter in Wirtschaft, Kirche, Politik und Kunst. Seine kirchlichen Betätigungen in der bayerischen Landeskirche schon vor dem I. Weltkrieg prädestinierten ihn zu einem maßgeblichen Mitgestalter des Kirchenwesens vor allem der bayerischen, aber auch der gesamtdeutschen Kirche nach 1919. Ihm ist im wesentlichen die Verfassung der bayerischen Landeskirche von 1919/20 zu verdanken, die nicht weniger als fünfzig Jahre durch alle schwierigen Phasen der Zeit zwischen 1920 und 1970 Bestand hatte.
Mit Landesbischof Meiser hatte er wichtige Wesenszüge gemeinsam: eine konservative und nationale Gesinnung, aber vor allem die Liebe zur lutherischen Kirche. Dennoch ist beider Verhältnis von einer tiefen Tragik erfüllt. Sie kannten sich spätestens seit Beginn der bayerischen Landessynode 1920, deren erster Präsident Wilhelm von Pechmann war und der Meiser als Synodaler angehörte. Der wesentliche Abschnitt ihrer Beziehungen liegt jedoch in der Zeit des „Dritten Reiches“. Sie waren einander innerlich sehr nahe und doch stellte von Pechmann in einem Brief vom 8.7.1933 an Meiser fest, „dass unsere Wege leider recht weit auseinander gehen“.
Trotz vieler gegensätzlicher Auffassungen über das Verhältnis von Kirche und Staat und darüber, wie die Identität der Kirche in einem feindseligen Staatswesen gewahrt bleiben könnte, begegneten sie einander mit ausgesuchter Höflichkeit und steten Respektsbezeugungen, auch als von Pechmann 1934 aus der evangelischen Kirche ausgetreten war. Kernpunkt der Differenzen war die Frage, wie weit und in welcher Form muss eine evangelisch-lutherische Kirche, die sich ihrem aus der Hl. Schrift und den Bekenntnisschriften hergeleiteten Selbstverständnis verpflichtet weiß, einer Entwicklung Widerstand leisten, die die Kirche und ein ganzes Volk auf Abwege und ins Verderben führt.
Von Anfang an hat von Pechmann die unheilvolle Ideologie des Nationalsozialismus und die Gefahren ihrer Umsetzung durch die politische Macht mit kritischem Blick durchschaut. Jedoch ergaben sich angesichts der sich abzeichnenden und dann auch eingetretenen Konflikte mit dem Regime und seinem „kirchlichen“ Steigbügelhalter in Gestalt der Deutsch-Christlichen Bewegung zwei divergierende Positionen für Meiser und von Pechmann: der eine sah sich in der Verantwortung für eine ganze Landeskirche, der andere konnte als Einzelner agieren, auch wenn beider Gewissen in gleicher Weise von der Verpflichtung der Kirche gegenüber geprägt war. Damit verband sich das andere Problem: Welche Art der Aktion und Reaktion konnte vom Wesen der Kirche – als der Verkünderin in der göttlichen Gebote und der göttlichen Gnade her verstanden – der Integrität und dem Erhalt einer ganzen Landeskirche am besten dienen? War es nicht gerade die Aufgabe für die Kirche dieser Zeit, eine Existenzform zu finden oder zu bewahren, die eine größtmögliche Effizienz in der Ausrichtung des kirchlichen Auftrags gewährleistete? Keine Opposition zu leisten führte naturgemäß zur Gewaltherrschaft der Deutschen Christen mit ihrer Rosenbergischen Ideologie und damit zur Zerstörung des Kirchenwesens. Umgekehrt verursachte schrankenlose Opposition die Ausschaltung der aktiven Kräfte im Lager der Bekennenden Kirche, wie sich am Schicksal der Pfarrer Niemöller, Schneider und Steinbauer zeigte. Von Pechmann zog übrigens den Begriff „Widerspruch“ dem Wort „Widerstand“ vor.
Meiser versuchte einen Mittelweg zu gehen. Man hat ihm dies häufig verdacht. Das Problem seiner Amtsführung war die Frage: Wie kann man die innere Substanz einer ganzen Landeskirche erhalten, ohne sie gleichzeitig der zerstörerischen Macht einer Irrlehre und einer staatlichen Organisation auszuliefern? Dass es zur Beantwortung dieser Frage zu recht unterschiedlichen Auffassungen kommen konnte, liegt in der Natur der Sache.
Von Pechmann protestierte z.B. gegen die 1933 entstandene Verfassung der neuen „Deutschen Reichskirche“, weil sie einem deutsch-christlichen Kirchenregiment unter Reichsbischof Ludwig Müller den Weg ebnete, und nahm Anstoß daran, dass sich die bayerische Landeskirche dieser Reichskirche anschloss. Beides veranlasste ihn schon früh, d.h. im Februar 1934, zum Austritt aus der evangelischen Kirche. Im April dieses Jahres versicherte er dennoch: „Unsere Kirche werde ich nicht nur nicht vollständig, sondern überhaupt nicht aus dem Herzen verlieren.“
Im Jahr darauf stärkte er die bayerische Landeskirche in ihrem Protest gegen die Abschaffung der konfessionellen Bekenntnisschulen. Später wandte er sich gegen den Treueid, den auch evangelische Pfarrer zu leisten hatten. Nach dem Judenpogrom vom 8./9.11.1938 forderte er die Kirchenleitung leidenschaftlich zu offiziellen Protesten auf. Er schlug ein gemeinsames Vorgehen mit der katholischen Kirche vor, wie übrigens auch schon im Kampf gegen die Auflösung der Bekenntnisschulen. Sehr am Herzen lag ihm die Einheit der beiden christlichen Großkirchen, die durch solche gemeinsame Aktionen zutage treten sollte.
Meiser hatte für von Pechmanns Kompromisslosigkeit Verständnis, wie er ihm in einem Brief von 29.4.1939 mitteilte, konnte sie aber unter dem Hinweis auf Hermann von Bezzels Wort von der „Pflicht zur Treue gegen die eigene Kirche“ nicht teilen. Auch er trat für eine deutsche evangelische Kirche ein, jedoch sollte sie stärker konfessionell und in ihrem Handeln von den reformatorischen Bekenntnissen bestimmt sein. Zur Erhaltung der evangelischen Bekenntnisschulen in Bayern erfolgten Verhandlungen mit dem Kultusministerium, die jedoch erfolglos blieben. Den Treueid der Pfarrer auf Adolf Hitler befürwortete er, weil er sich davon ein besseres Verhältnis zwischen Kirche und Staat erhoffte. In der Frage der Judenverfolgung schloss er sich durch Unterzeichnung dem Protestschreiben des württembergischen Landesbischofs Wurm an und sorgte in der eigenen Landeskirche für die Errichtung einer Betreuungsstelle für nichtarische Personen. Für eine intensivere ökumenische Beziehung zur katholischen Kirche und für gemeinsame Aktionen war die Zeit noch nicht reif. Beide Anliegen wurden erst nach dem II. Weltkrieg verwirklicht, als sich z.B. die evangelische wie auch die katholische Kirche gegenseitig Hunderte von Gotteshäusern zur Abhaltung der Gottesdienste vor allem für die Heimatvertriebenen zur Verfügung stellten.
Trotz aller gegensätzlicher Auffassungen zwischen Meiser und von Pechmann gab es zwischen den beiden zahlreiche persönliche Begegnungen und eine die ganzen Jahre des „Dritten Reiches“ hindurch aufrecht erhaltene Korrespondenz. Auch wenn das gegenseitige Verhältnis gelegentlich Krisen aufwies, war der Gesamttenor der Beziehungen immer versöhnlich und respektvoll. Für seine eigene Linie im kirchenpolitischen Verhalten gab Meiser einmal Pfarrer Steinbauer zu bedenken, was genau so gegenüber Baron von Pechmann gilt, und was er am 28.7.1938 in einem Konzept schrieb:
„Nun wird es in Bezug auf die Entscheidung wichtiger Fragen immer sachliche Unterschiede geben und keine Kirchenleitung, wenigstens keine evangelische, wird für sich Infallibilität in Anspruch nehmen. Aber sie darf für sich beanspruchen, dass ihr nicht ohne weiteres Mangel an Glaubenszuversicht oder Abweichen vom Bekenntnis vorgeworfen wird, wenn sie in ihren sachlichen Entscheidungen von dem Urteil Einzelner oder eines Teiles der Pfarrer abweicht.“
Die Art und Weise, wie die beiden kirchengeschichtlich wichtigen Gestalten trotz oft weit auseinander liegender Auffassungen miteinander umgingen, bietet ein geradezu klassisches Beispiel für ein zutiefst christliches Verhalten beim Austragen konträrer Ansichten. Dem gibt das Dankschreiben Wilhelm von Pechmanns an Meiser vom 11.11.1942 besonderen Ausdruck:
„Den Dank aber, mit dem ich begonnen habe, lassen Sie mich zum Schlusse über das Persönliche hinaus auf alles erstrecken, was von Ihnen geschehen ist und geschieht, getragen worden ist und getragen wird, um in mehr als schwerer und immer noch schwerer werdender Zeit den Aufgaben Ihres hohen Amtes gerecht zu werden. In Ehrerbietung und alter herzlicher Verehrung bitte ich bleiben zu dürfen, hochwürdigster Herr Landesbischof, Ihr treu ergebener D. Wilhelm von Pechmann.“
Damit waren jedoch die persönlichen Beziehungen zwischen Meiser und Pechmann nicht beendet. Der Baron fühlte sich immer mehr zur katholischen Kirche hingezogen. In einem Brief vom 6.4.1943 erinnert er sich an einen Empfang bei Meiser. Er übersendet dabei dem Landesbischof eine Schrift des Jesuiten Max Pribilla mit dem Titel „Der Wille Jesu zur christlichen Einheit“ aus einem Sonderdruck der Zeitschrift „Scholastik“ und empfiehlt sie Meiser zur „freundlichen Beachtung“ (aus:F.W. Kantzenbach: Widerstand und Solidarität der Christen in Deutschland 1933-1945, S. 321).
Im Dankschreiben des Landesbischofs vom 12.6.1943 wird zum wiederholten Male einer der Differenzpunkte zwischen von Pechmann und Meiser sichtbar, als es darum geht, wie die Frage nach der Wahrheit mit der Forderung nach der Einheit der Kirche zu vereinbaren sei. Meiser lässt sich durch von Pechmanns Wunsch nach der Einheit der Kirche nicht von der (konfessionell bedingten)Frage nach der Wahrheit abbringen. Für ihn ist eine kirchliche Einheit nur auf dem Boden gemeinsamer Wahrheitserkenntnis denkbar. Während von Pechmann mit seinem Gewährsmann Pribilla der Betätigung der christlichen Liebe und der praktischen Zusammenarbeit den Vorzug gibt, wobei die theologische Wahrheitsfrage in ihrer Bedeutung zurücktritt, kann Meiser in einem Brief vom 4.3.1946 die Voraussetzungen dafür „wenigstens für unsere augenblickliche Gegenwart nicht in dem Maße erfüllt sehen, wie Sie es vermögen“ (Kantzenbach, a.a.O. S. 324).
In seinem letzten Schreiben vom 9.3.1946 vertritt von Pechmann die Ansicht, dass es zu einer Reformation nicht gekommen wäre, wenn zu Luthers Zeiten Päpste wie Pius XII. regiert hätten „und Erzbischöfe und Bischöfe wie die Kardinäle von Faulhaber, Graf Galen, Graf Konrad Preysing, wie die Bischöfe Michael Buchberger – Regensburg, und Simon Konrad Landersdorfer O.S.B. in Passau? Undenkbar!“ Er scheint dabei die konfessionellen Gegensätze auf die Ebene des Unerforschlichen zu verlegen, wenn er bei seiner Betrachtung an das Wort Goethes erinnert:“Das schönste Glück für den denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren“.
Nach seiner Meinung will Gott nicht, dass die Kirche „fortfahre, über unerforschliche Geheimnisse zu streiten und sich zu spalten“, wobei er auf die Una-Sancta-Bewegung als „Zeichen der Zeit“ verweist (aus Kantzenbach a.a.O. S. 325). Von Landesbischof Meiser liegt keine Antwort auf diesen Brief vor.
Am 13.4.1946 fasst Baron von Pechmann den Entschluss, zur katholischen Kirche zu konvertieren. Im Mai des Jahrs wird er von ihr aufgenommen und empfängt am 12.6.1946 das Sakrament der Firmung durch Kardinal Michael von Faulhabe. Am 10.2.1948 ist von Pechmann in München gestorben. Landesbischof Meiser kondoliert seiner evangelisch gebliebenen Tochter Hildegard von Pechmann am 16.2.1948. Er verweist darauf, dass es die Umstände ihm nicht gestattet haben, „zu der Bestattung Ihres Herrn Vaters zu erscheinen und an seinem Grab zu sprechen, wie ich es mir sonst nicht hätte nehmen lassen.“
Meiser fährt fort: „Niemand kann ihm das Zeugnis verweigern, daß er stets ritterlich und männlich für sie (sc. die Kirche) eingetreten ist und ihr in hohen und höchsten kirchlichen Ehrenstellen mit seinen reichen Gaben erfolgreich gedient hat. Sein Name war nicht nur weit über den Bereich der eigenen Landeskirche hinaus bekannt, sondern wurde allenthalben auch mit Hochachtung und aufrichtiger Verehrung genannt, und oft schon mußte ich mir bei dem Mangel an führenden Persönlichkeiten für das kirchliche Leben sagen, wir brauchen eben einen Mann wie Herrn Baron von Pechmann“.
Es kann als versöhnliches Ende der Beziehungenzwischen den beiden in ihrer Kirche bedeutenden Männern gesehen werden, wenn der Landesbischof ungeachtet aller Gegensätze am Schluss des Briefes dem Verstorbenen wünscht, Gott „lasse ihn im Frieden ruhen und alles, was in seinem Leben an heiliger Sehnsucht vorhanden war, zur Erfüllung kommen“ (nach Kantzenbach, a.a.O. S. 330).