Beziehung zu Reichsbischof Müller
Die „amtlichen“ Beziehungen zwischen Meiser und Müller dauerten nur von 1933 – 1935, als Müller seinen Einfluss auf die Geschicke der Deutschen Evangelischen Kirche verlor. Das gegenseitige Verhältnis legte drei Problemkreise offen, die für die ganze Zeit des Kirchenkampfes bis 1945 von grundlegender Bedeutung waren: die Zuordnung von Kirche und Staat, die Verbindung von Recht und Macht sowie das Gegenüber von Freiheit und Hörigkeit. Alle drei Komplexe spiegeln sich in dem Verhältnis von Meiser und Müller wider, nicht zuletzt deswegen, weil Müller ein markanter Vertreter der Deutschen Christen war und Meiser einem der Flügel der Bekennenden Kirche angehörte.
Müller war seit 1931 Mitglied der NSDAP, nahm 1932 an der inoffiziellen Gründung der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ (DC) teil und war ab 1933 zeitweise ihr Schirmherr sowie in der Deutschen Evangelischen Kirche ihr Protagonist. Auch wenn Meiser und Müller im Anfang ihres Wirkens als Landesbischof und Reichsbischof sich noch vertrugen, wurde doch sehr bald ihre gegenteilige Einschätzung des Verhältnisses von Kirche und Staat sichtbar. Der Kirche fiel nach deutsch-christlichem Verständnis die Funktion zu, den Einfluss der NSDAP unter den Kirchengliedern geltend zu machen. Kennzeichnend für die Grundhaltung der DC (Deutschen Christen) war die Synthese von Glaube und Politik, von Kirche und Staat. Charakteristisch zusammengefasst ist dies in einer Passage aus der Schrift des deutsch-christlichen Pfarrers Julius Leutheuser (Die deutsche Christusgemeinde, S. 4): „Treue zu Gott und Treue zu Deutschland. Glaube an Gott und Glaube an Deutschland, Liebe zur ewigen Heimat, Liebe zum deutschen Bruder und christliche Nächstenliebe, Trachten nach dem Reich Gottes und Trachten nach dem Reich der Deutschen. Deutscher sein und Christ sein, unlösbar sind die Begriffe miteinander verbunden.“
Meisers Auffassung von der Kirche orientierte sich ausschließlich an den Aussagen der Hl. Schrift und der lutherischen Bekenntnisse. Ihren zusammenfassenden Ausdruck fanden sie in der Lehre Luthers von den zwei Regierweisen Gottes. Hierin waren der Kirche rein geistliche Aufgaben zugewiesen: die Verkündigung des Wortes Gottes in Gericht und Gnade. Dem weltlichen Regiment („Obrigkeit“) wurde die Aufrechterhaltung der Ordnung in der menschlichen Gesellschaft und die legitime Ausübung von Gewalt (Gerichtsbarkeit, Polizei, Entscheidung über Krieg und Frieden) zugeordnet. Im Gegensatz zu einem Missverständnis dieser „Zwei-Reiche-Lehre“ wurde jedoch dem Staat keine Absolutheit zugesprochen, sondern die Unterordnung unter die Herrschaft Gottes festgestellt, wie sich aus Artikel 16 der Confessio Augustana ergibt. Nach ihr stößt das Evangelium „nicht das weltliche Regiment, die Polizei (Staatsordnung) und den Ehestand um, sondern will, dass man dies alles als wahrhaftige Gottesordnung erhalte und in diesen Ständen christliche Liebe und rechte gute Werke, jeder in seinem Beruf, erweise“.
„…Wenn aber der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden kann, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Evangelisches Gesangbuch, S.1570/1). Für Meiser bedeutete die hier ausgesprochene Positionierung von Kirche und Staat im Kirchenkampf die Frage: Wie weit kann ich den staatlichen Gesetzen und Verordnungen nachkommen, ohne gegen Wort und Willen Gottes zu verstoßen und gleichzeitig die freie Verkündigung des Evangeliums erhalten?
Trotz der gegensätzlichen Totalitätsansprüche von Christentum und NS-Weltanschauung suchten Meiser und Müller anfänglich noch miteinander auszukommen. Als die deutsche Nationalsynode am 17.9.1933 die Wahl des Reichsbischofs durchführte, stimmte Meiser mit anderen nicht-deutsch-christlichen Kirchenführern für Müller. Zweierlei war dafür maßgebend: Meiser wollte nicht schon so kurz nach seiner Einführung als Bischof der bayerischen Landeskirche am 11.6.1933, die von den Organen des Staates und der NSDAP mit freundlichen Gesten begleitet wurde, einen Konflikt mit dem NS-Regime herbeiführen; andererseits vertraute er darauf, dass der Reichsbischof mit den Deutschen Christen sich an die im Juli beschlossene Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche, die als Kirchenbund alle deutschen Landeskirchen umfasste, halten würde. Müller seinerseits besuchte die bayerische Landeskirche und war Gast in des Bischofs Haus.
Schon bald jedoch ergaben sich erhebliche Differenzen. Diese brachen auf an der im „Dritten Reich“ verhängnisvollen Verquickung von Recht und Macht. Wie die Kirche so wurde auch das Recht instrumentalisiert zugunsten der Macht der deutsch-christlichen und der staatlichen, von der NSDAP kontrollierten Herrschaft. Die Diktatur Hitlers versuchte Müller auch im kirchlichen Bereich zu praktizieren. Nach der skandalösen Veranstaltung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast am 13.11.1933, auf der sie ein „arteigenes“ Christentum unter Ausmerzung des Alten Testaments und der paulinischen „Minderwertigkeitstheologie“ gefordert hatten, entstand im deutschen Protestantismus eine breite Front des Widerspruchs. Müller, der sich nur halbherzig von den Äußerungen der DC auf dieser Kundgebung distanziert hatte, erließ am 4.1.1934 den so genannten Maulkorberlass, in dem er den Landeskirchen schriftliche und mündliche Stellungnahmen zu der kirchlichen Entwicklung in Deutschland verbot. Darunter fiel auch eine Erklärung des von Pfarrer Martin Niemöller (mit)gegründeten Pfarrernotbundes. Müller bat die Kirchenführer von der Verlesung dieser oppositionellen Erklärung auf den Kanzeln ihrer Landeskirchen abzusehen. Als diese mit Meiser der Bitte zustimmten, kam es zu einer Verstimmung mit Niemöller.
Während Müller sich weitere Rechtsbrüche gegenüber der Kirchenverfassung leistete, forderte Meiser am 23.1.1934 in einer Besprechung mit nicht-deutsch-christlichen Kirchenleitern, Vertretern des Pfarrernotbundes und einigen Professoren wörtlich: „Müller muss fallen.“ Dem widersprach freilich das „Treuegelöbnis“, das Meiser mit Wurm und anderen Kirchenführern zwei Tage nach der verhängnisvollen Audienz bei Hitler in einer Besprechung mit Müller diesem gegenüber abgelegt hatten. Meiser erkannte und bekannte sehr bald darauf sein Fehlverhalten und distanzierte sich von seiner Erklärung. Am 13.3. fand nochmals ein Empfang bei Hitler statt. Wieder beklagten sich die Kirchenführer über Müller. Als Hitler trotzdem an diesem festhielt, kam es zu der bekannten Äußerung Meisers, unter diesen Umständen nur noch „allergetreueste Opposition“ sein zu können.
Im Laufe des Jahres 1934 wollte Müller sein eigentliches Ziel, eine deutsche Nationalkirche mit zentraler Führung zu errichten, verwirklichen. Die einzelnen Landeskirchen sollten ihrer Selbständigkeit beraubt und der Reichskirche ein- und untergeordnet werden; auch dies ein Bruch der Kirchenverfassung vom 11.7.1933. Er bediente sich dazu eines von ihm eingesetzten „Rechtswalters“, Dr. August Jäger, dem er die Gleichschaltungsmaßnahmen überließ. In den deutsch-christlich geführten Landeskirchen hatte dieser Erfolg. Nicht so bei den Landeskirchen von Bayern, Hannover und Württemberg. Deren Bischöfe widersetzten sich der Maßnahme. Dessen ungeachtet erklärte Jäger die Bischöfe Meiser und Wurm für abgesetzt und ließ Hausarrest über sie verhängen. Beide Bischöfe weigerten sich standhaft, die Absetzungsurkunde zu unterschreiben. In vielen Gemeinden Bayerns regte sich eine energische Opposition, die der NS-Partei unangenehm wurde, weil sie auch Aufsehen im Ausland erregte. Hitler gab darauf den Befehl zur Aufhebung des Gewahrsams. Landesbischof Wurm bezeichnete diesen Vorgang später als „die einzige innenpolitische Niederlage Hitlers“.
Schon vorher spielte unter den bekennenden Kirchenführern die Frage der offiziellen Teilnahme an der Einführung Müllers in sein Amt als Reichsbischof eine große Rolle. Da Müller auf ihre Forderung, die Selbständigkeit der Landeskirchen wiederherzustellen, nicht einging, lehnten sie eine Teilnahme ab. Meiser, dem ein Erscheinen seines Hausarrestes wegen (12. – 26.10.) nicht möglich war, sandte Müller zu dieser „Inthronisation“ (20.10.) einen Glückwunsch in Form eines offenen Briefes, in dem noch einmal alle Beschwerden gegen das Müller-Jäger-Regime zusammengefasst waren. Es hieß darin u.a.: „Sind Sie bereit, wie es einem lutherischen Bischof geziemt, mit allem Nachdruck dafür einzutreten, dass die bewusst zerstörte Ehre deutscher evangelischer Bischöfe und Kirchenmänner voll wiederhergestellt wird, dass die deutsche Öffentlichkeit die wahren Tatbestände unverkürzt und unverschleiert erfährt und dass alle unwahren Behauptungen unverzüglich zurückgenommen werden? Sind Sie bereit, so wie es einem lutherischen Bischof geziemt, mit Wort und Tat Zeugnis abzulegen gegen den unchristlichen und widerchristlichen Geist, der gegen die Kirche des reinen Evangeliums aufsteht und unser Volk, das dem Christentum seit dem Eintritt in seine große Geschichte verbunden ist, zerstören will?“ (Roepke, S. 409) In diesen Sätzen kommt die Erwartung Meisers zum Ausdruck, dass Müller nicht nur oberster Verwaltungsbeamter einer Kirchenbehörde, sondern auch geistlicher Führer sei.
Indes war die Person Müllers nicht nur in der Deutschen Evangelischen Kirche umstritten. Er verlor zusehends auch in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit an Ansehen. Bereits am 6.12.1933 hatte Meiser ein Gespräch mit Direktor Bade aus dem Reichspropagandaministerium, in dem dieser Meiser bat, nicht nur Pfarrer Hossenfelder, den Reichsleiter der Deutschen Christen, sondern „womöglich auch gleich den Reichsbischof zu beseitigen“ („Verantwortung für die Kirche“, Bd. I S. 168/9). Im Januar 1934 überlegten nicht-deutsch-christliche Kirchenführer mit dem Leiter der kulturpolitischen Hauptabteilung der NSDAP Dr. Buttmann und dem Ministerialrat Dr. Conrad, ob Müller nicht die Stelle eines „Armeebischofs“ übertragen werden könnte. Darauf sagte Meiser: „Ich kann nur sagen, Müller ist derart unmöglich, dass auch die militärischen Kreise keine besondere Zuneigung zu ihm haben.“ (a.a.O.,S. 201)
Die kirchenpolitische Entmachtung Müllers vollzog sich sodann schrittweise. Zwischen dem 18. und 22.12.1934 waren Wurm und Meiser von Gauleiter Koch aus Königsberg zu einer Besprechung nach Berlin eingeladen worden. Er teilte ihnen mit, dass Müller als „Figur“ „eingerahmt“ werden solle. Hitler, der Müller fallen gelassen hatte, ermächtigte am 24.9.1935 den früheren preußischen Justizminister, Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Leiter der Reichsstelle für Raumordnung, Hanns Kerrl, für die „Wiederherstellung geordneter Zustände in der Deutschen Evangelischen Kirche“ zu sorgen. Damit begann die stillschweigende Entmachtung Müllers. Am 3. Oktober 1935 setzte Kerrl einen „Reichskirchenausschuss“ ein. Seitdem war Müller für die weitere Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland ohne Bedeutung. Da er zwar entmachtet, aber nicht abgesetzt war, behielt er Titel und Gehalt und reiste u.a. in viele bayerische DC-Gruppen, um diese in ihrer Haltung zu stärken. Am 31.7.1945 schied Ludwig Müller in Berlin durch Freitod aus dem Leben.