Fazit

Meisers Haltung der „Allergetreuesten Opposition“ bzw. seine „Mit dem Feind – Gegen den Feind – Politik“ ist vor allem dann richtig zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im NS-Staat – entgegen allen ursprünglichen Versprechungen – die Kirche immer mehr aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden sollte, mit dem Ziel der völligen Auslöschung. Am 8. Juli 1940 stellte dies der Gauleiter der bayerischen Ostmark, Wächtler, mit folgenden Worten in Aussicht:

„Nach dem Siege über England wird im Reiche eine große Neuordnung einsetzen. Es wird gründlich aufgeräumt werden. Die Kirche in ihrer jetzigen Form muss verschwinden. Es gibt dann nur noch eine Kirche, und zwar die Nationalkirche. Wer sich dieser nicht anschließt, für den ist schon ein Platz bereit. Heute können wir die geplanten Maßnahmen gegenüber der Kirche nicht durchführen, denn wir brauchen die Kirche noch.“

Und der Kreisleiter von München-Ramersdorf führte 1941 aus: „Zur restlosen Vernichtung der Kirche: Wir, die wir jetzt leben, müssen noch restlos die Kirche vernichten, Adolf Hitler und seine alten Kämpfer. Man sage nicht, es genüge, dass die Jugend Deutschlands ohne Kirche aufwächst. Hitlers Nachfolger könnte milder sein, könnte Mitleid haben, dann würde die Eiterbeule wieder aufplatzen. Der Nazismus verhält sich zu den christlichen Konfessionen wie Feuer zu Wasser.“

Am 6. Juni 1941 kam es zu einem Geheimerlass Martin Bormanns über die Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus. Demnach sollte das Christentum nach dem Kriege restlos vernichtet werden.

Man kann davon ausgehen, dass Landesbischof Meiser diese staatlichen Überlegungen und Pläne bekannt waren. Dennoch wagte er es zu protestieren, wenngleich aus den dargestellten Gründen eben nicht lautstark. Er verwehrte sich zudem – dies ist bekannt und belegt – wiederholt gegen Euthanasie und Deportation. Immer wieder versuchte er, im KZ Dachau eine geistliche Betreuung der dort Inhaftierten zu erreichen – vergeblich. So verwandte er sich zum Beispiel bei Himmler für Martin Niemöller, allerdings ohne Erfolg; der Staat verwehrte ihm jede Einmischung. Man kann sich vorstellen, was dies bei Meiser auslöste: Wenn er schon den eigenen Glaubensgefährten kaum helfen konnte, wie dann den anderen Häftlingen? Das Schicksal Pfarrer Karl Steinbauers, der im Januar 1939 verhaftet wurde und später ins KZ Sachsenhausen kam, aus dem er im Dezember desselben Jahres überraschend unter der Auflage freigelassen wurde, nichts von dem, was er im KZ gesehen und erlebt hatte, preiszugeben und sich kirchenpolitisch nicht mehr zu betätigen, bestätigt geradezu die Politik von Hans Meiser.

Am 7. Mai 1941 wurde der Landesbischof wegen eines Hirtenbriefes an die bayerischen Geistlichen im Felde von der Geheimen Staatspolizei verhört. Im Juni versandten er und Landesbischof Wurm eine Gegenerklärung wegen des Ergebenheitstelegramms des Geistlichen Vertrauensrates an Hitler anlässlich des Überfalls auf die Sowjetunion. Dieser Rat war 1939 gegründet worden und bestand aus den Landesbischöfen Marahrens (Hannover), Schulz (Schwerin) und dem Oberkonsistorialrat Hymmen (Berlin). Im Kriegsfall sollte er als Sprachrohr der Kirche dienen. Von diesem Rat stammt auch der Text der im ersten Kapitel erwähnten Kanzelabkündigung zum Polenfeldzug. Sie trägt zwar Meisers maschinen geschriebene Unterschrift, war aber nicht von ihm verfasst worden. Zudem traf sie nicht überall rechtzeitig ein, so dass sie in Bayern gar nicht zur Verlesung kam. Mit dem Geistlichen Vertrauensrat, so urteilt Helmut Baier, wollte die bayerische Landeskirche ohnedies so wenig wie möglich zu tun haben.

Ein weiteres Zeugnis der Spannungen zwischen Meiser und dem NS-Staat liefert Baier in „Kirche in Not“, wenn er berichtet, dass für den verstorbenen Reichsminister Kerrl ein Staatsbegräbnis angeordnet worden war (1941). „Der Trauerakt fand in der Neuen Reichskanzlei statt, wo sich die Prominenz versammeln durfte. Die Kirchenführer erhielten von der Kirchenkanzlei die Mitteilung, sich zum Begräbnis auf dem Waldfriedhof Dahlem einzufinden, und zugleich die Weisung, am vorhergehenden Staatsakt nur nach Einladung durch das Reichspropagandaministerium teilzunehmen. Meiser brauchte nicht zu erscheinen, er war persona non grata.“ Weiter ist darauf hinzuweisen, dass Meiser die Worte „Führer“ oder „Partei“ u.ä. in seinen Predigten und Verlautbarungen so weit wie möglich sorgfältig vermied.

Immer wieder legte er bei den staatlichen Stellen Protest ein (etwa am 26.5.1943 beim Reichsinnenministerium gegen das Verbot von Himmelfahrtsgottesdiensten). Meiser hatte seine halbwegs noch intakte Kirche eben gegen diesen Staat zu verteidigen. Claus-Jürgen Roepke fasst dies in „Die Protestanten in Bayern“ mit folgenden Worten zusammen: „Seiner Meinung nach konnte eine geschlossene Kirche dem Hitlerregime auf Dauer gesehen gefährlicher werden und im Krieg ihren Dienst in der Bevölkerung besser ausrichten, als die in der Illegalität operierenden und die Gemeinen überfordernden Bekenntnispfarrer in den zerstörten Landeskirchen. Das war keineswegs eine Erkenntnis des Glaubens, sondern das Ergebnis taktischer Überlegungen.“

Wie also hätte sich Meiser mit den Zielen der NS-Regierung identifizieren können, wo doch seine Kirche und er selbst von ihr bedroht waren? Sein Gewissen scheint vor allem von drei Faktoren geprägt gewesen zu sein:

● von den offenbarten Glaubenswahrheiten der Heiligen Schrift und ihren Interpretationen in den lutherischen Bekenntnisschriften;

● von dem in beiden Fundamenten dargelegten Verständnis der „Obrigkeit“ (= Staat);

● von seinem Auftrag als Bischof, oberster Hirte einer ganzen Landeskirche zu sein.

Gerade das Festhalten an Schrift und Bekenntnis machte ihm in den Zeiten der zunehmenden Gottwidrigkeit des NS-Regimes die Loyalität gegenüber dem Staat besonders schwer. Dies auch darum, weil Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ auf S. 379 erklärt hatte: „Die NS-Bewegung sieht in beiden religiösen Bekenntnissen gleich wertvolle Stützen für den Bestand unseres Volkes.“

Als die Praxis des NS-Staates dann das Gegenteil bewies, wurde für Meiser die Wahrnehmung seines bischöflichen Amtes und Auftrags zur Gratwanderung zwischen dem Eintreten für die Geltung des christlichen Glaubens und der der Obrigkeit geschuldeten Loyalität. Der Kampfplatz für diesen inneren Spagat war sein Gewissen. In den Auseinandersetzungen wird oft so getan, als wären nur die lautstarken Widerständler wie Karl Steinbauer oder Wilhelm von Pechmann ihrem Gewissen vor Gott gefolgt. Jedoch gerade seine Gewissensfestigkeit machte Landesbischof Meiser das tägliche Ringen um die rechte (und vor Gott zu verantwortende) Entscheidung so schwer – ganz im Gegensatz zu den DC-Kirchenführern.

Immer wieder musste er sich fragen: Wie weit kann ich gehen, ohne die Wahrheit der Heiligen Schrift zu verleugnen, und dennoch die gebotene Untertänigkeit gegenüber dem Staat wahren (Röm. 13, 1ff)? Dazu kam noch das Bestreben, die Einheit (und Einheitlichkeit) der Kirche nach Möglichkeit zu erhalten – all dies begleitet von der tiefen, auch laut geäußerten Sorge um die Zukunft des Volkes. Da eine öffentlich ausgesprochene Befürchtung dieser Art bereits als Staatsfeindlichkeit ausgelegt werden konnte, waren Kompromisse oder eben „allergetreueste Opposition“ bei diesen Verhältnissen nicht zu umgehen. Stets mussten Entscheidungen von außergewöhnlicher Brisanz gefällt werden, z.B.: Was ist von höherem Gewicht: der Widerstand gegen den Hitlergruß im Religionsunterricht oder die Weiterführung des Religionsunterrichts? Die Nadelstichpolitik des NS-Staates sorgte mit ihren Provokationen unentwegt dafür, dass sich die Kirchenleitung während jener Zeit ständig zwischen Skylla und Charybdis bewegen musste. In einem geordneten Rechtsstaat, wie wir ihn heute haben, ist solches kaum mehr vorstellbar.

Immerhin bot aber die Erhaltung der „intakten“ Landeskirchen nach 1933 ein (eingeschränktes) Bollwerk gegen die im NS-Staat weit um sich greifende deutsch-christliche Verfälschung der biblischen Botschaft. Die Kirchen leisteten während des bayerischen Kirchenkampfes wohl keinen lautstarken „Gegenkampf“, aber doch einen hinhaltenden „Widerstand“. Deshalb wurde gegen bayerische Pfarrer – statistisch gesehen – jeden zweiten Tag eine Strafmaßnahme verhängt.

Interessant ist, dass die kritischen Stimmen gegen Landesbischof Hans Meiser meist aus der evangelischen Kirche selbst stammen, während hingegen neutrale weltliche Beobachter sein Wirken gänzlich anders beurteilen. Ein Abschnitt aus dem Werk „Deutsche gegen Hitler“ des Deutschland-Korrespondenten des Manchester Guardian, Terence Prittie, mag dies beispielhaft bezeugen:

„Hitler hat wohl angenommen, dass die Herrschaft über den Apparat der Kirchenverwaltungen und über die kirchliche Jugend ihm die Herrschaft über die Evangelischen für die Zukunft garantieren würde und dass er weitere Opposition von Seiten dieser „kleinen dürftigen Subjekte“ nicht zu befürchten habe. Aber viele deutsche Protestanten wurden der Gefahr, die der Nazismus für ihre Kirchen und für ihren Glauben bedeutete, sehr rasch gewahr. Anfang September weigerte sich ein Drittel der preußischen Synode, die Wahl des Reichsbischofs Müller zu bestätigen. Hitler handelte sofort: auf dem Wege staatlicher Verordnung wurden alle kirchlichen Synoden abgeschafft.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der kirchliche Widerstand sein Zentrum bei den Evangelischen der Rheinprovinz und Westfalens, die sich der Autorität des Staates in religiösen Angelegenheiten nicht beugen wollten. Pastor Martin Niemöller war der erste, der auf die Einmischung der Nazis in kirchliche Dinge reagierte; im September 1933 gründete er den „Pfarrernotbund“, dem mehr als 1300 Pfarrer aus ganz Deutschland sofort beitraten. Bis Weihnachten umfasste der Notbund mehr als sechstausend Mitglieder, d.h. rund ein Drittel aller evangelischen Pfarrer Deutschlands. Bei den Deutschen Christen blieben höchstens dreitausend von einer Gesamtzahl von 17.000. Rund die Hälfte der Pfarrer bezog keine klare Stellung in einem Kampf, dessen Ausgang ungewiss war und dessen Verwicklungen sie vielfach nicht begreifen konnte.

Der Widerstand war in vollem Gange. Im Dezember 1933 nahm er deutlichere Formen an. Er hatte nun zwei Zentren. In Süddeutschland kämpften die kirchlichen Führer tapfer, aber ohne großes Aufsehen darum, dass ihre Kirchen von weltlichem Einfluss frei blieben und dass ihre Gemeindeglieder nicht jeden Sinn für den eigentlichen Charakter des Christentums verloren. In Norddeutschland geschah etwas Fundamentaleres, nämlich ein gemeinsamer Versuch von Christen, die ihrem Gewissen keinen Kompromiss zumuten wollten, einem erklärten Feind zu widerstehen, dem Nazismus. Zunächst waren diese beiden verschiedenen Arten des Widerstandes eng miteinander verbunden. So unterzeichneten z.B. im Dezember 1933 sechstausend Pfarrer aus ganz Deutschland eine Erklärung, dass die Existenz der deutschen evangelischen Kirche in ihrer Gesamtheit bedroht sei. Im selben Monat protestierten die lutherischen Bischöfe geschlossen gegen die erzwungene Übernahme der evangelischen Jugendgruppen in die Hitler-Jugend. Im Januar 1934 suchte eine repräsentative Gruppe von Kirchenleitern Hitler auf, um ihm eine Reihe von Beschwerden vorzutragen; es wurde ihnen schroff bedeutet, Aufgabe der Kirchen sei es, mit der nationalsozialistischen Bewegung gleichen Schritt zu gewinnen und zu halten.

Im März 1934 versuchten die Bischöfe ein weiteres Mal, durch eine persönliche Begegnung mit Hitler zu einem Übereinkommen zu gelangen. Die Süddeutschen führten sie an – Bischof Theophil Wurm von Württemberg und Bischof Hans Meiser von Bayern. Sie brachten vor, sie hätten einen letzten Versuch unternommen, mit Reichsbischof Müller zusammenzuarbeiten (nach Dibelius hatten sie tatsächlich zugestanden, sich vom Pfarrernotbund zu distanzieren), aber ohne Erfolg. Zwei von den anwesenden Bischöfen erklärten, jeder weitere Druck von Seiten der Nazis werde sie zwingen, in „loyale Opposition“(falsche Übersetzung aus dem Englischen, richtig wäre „allergetreueste Opposition“gewesen – die Verf.) zu gehen. Das Ergebnis war einer der typischen heftigen Wutanfälle Hitlers.

Er behauptete, die evangelischen Kirchen seien 1918 völlig zusammengebrochen und zu einem Anhängsel der katholischen Kirche einerseits und der marxistischen Sozialdemokratie andererseits geworden. Er brüllte die Bischöfe an und nannte sie Volksverräter und Staatsfeinde.

Etwas erlosch nach dieser Unterredung von der süddeutschen, orthodoxen evangelischen Opposition gegen Hitler; wen könnte das wundern? Es war nicht einfach so, dass Männer wie Wurm und Meiser nur daran interessiert gewesen wären, ihre kirchliche Organisation intakt zu halten; sie glaubten vielmehr aufrichtig, dass ihre wesentlichste Pflicht sei, die Fortsetzung der christlichen Predigt und Liebestätigkeit zu ermöglichen. Sollten sie wie die ersten Christen den Rückzug in die Katakomben antreten? Wie sie es sahen, war diese Frage in einer Kontroverse zwischen einer weltlichen und einer religiösen Autorität im zwanzigsten Jahrhundert gar nicht gestellt, wobei die letztere nur das wollte, was ihr zustand und nicht nach den Missständen der weltlichen Regierung fragte. Ihr Fehler war, dass sie Hitlers tiefeingewurzelten Nihilismus, seine absolute Nichtachtung der Interessen und Wünsche des Volkes und seine Entschlossenheit, dem deutschen Volk seinen Willen aufzuzwingen, völlig unterschätzten. Eine ganze Reihe erfahrener Politiker machte denselben Fehler wie Wurm und Meiser, nur war er bei ihnen weniger verzeihlich.

Dennoch fuhren auch die weniger radikalen süddeutschen Evangelischen fort, sich gegen Übergriffe des Staates zur Wehr zu setzen. Ihr Widerstand nahm zwar mehr und mehr lokale Formen an, aber er wich von seinen ursprünglichen Zielen niemals ab…

1934 geriet Wurm erneut in Schwierigkeiten. Im August dieses Jahres bildeten die evangelischen Kirchen in Württemberg und in Bayern eine „Kampffront“ von Augsburg, welche die Einreihung in eine von den Nazis aufgezogene Nationalsynode verwarf und am Recht auf die eigene Unabhängigkeit festhielt. Im September wurde Wurm von Müller zum Rücktritt aufgefordert. Gleichzeitig wurde er verhaftet und beschuldigt, den politischen Gegnern der Nazis kirchliche Geldmittel zugeteilt zu haben. Er blieb vom 15. bis zum 18. September in Haft, und die Deutschen Christen erklärten, wer sich gegen die Reichskirche auflehne, lehne sich gegen den Führer auf. Nach seiner Freilassung weigerte sich Wurm weiterhin, freiwillig zurückzutreten. Am 9. Oktober ließ Müller ihn zwangsweise in den Ruhestand versetzen, und die Nazis glaubten sich nun imstande, ohne Gewissensbisse gegen ihn vorgehen zu können. Bischof Wurm wurde zum „volks- und staatsfeindlichen Element“ erklärt und ein weiteres Mal verhaftet.

Am 21. Oktober 1934 versammelten sich etwa siebentausend deutsche Protestanten vor Wurms Haus in Stuttgart, wo Wurm in Hausarrest gehalten wurde, und verlangten seine Freilassung, die daraufhin erfolgte. Merkwürdigerweise geschah dem bayerischen Landesbischof fast das gleiche fast zur gleichen Zeit. Die Neuordnung der evangelischen Kirche Bayerns wurde von den Nazis im Oktober 1934 proklamiert. Am 12. Oktober wurde der standhafte Meiser verhaftet, aber heftige Proteste in Nürnberg, Bamberg und anderswo veranlassten den zuständigen Gauleiter und notorischen Judenhetzer Julius Streicher zur Abgabe einer Erklärung, dass kein evangelischer Christ seinem Gewissen Gewalt antun müsse. Meiser wurde wieder in sein Amt eingesetzt. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob der orthodoxe Widerstand der Kirchen das Feld behauptet hätte.

Aber dieser orthodoxe kirchliche Widerstand hatte niemals große Chancen gegen die Dynamik des Nazismus. Es überrascht nicht, dass er in den nächsten zehn Jahren der Nazizeit mehr und mehr abflaute, obwohl Leute wie Wurm und Meiser ihre Versuche nie aufgaben. Ende 1934 trafen sie nochmals mit Hitler zusammen – sie scheinen dabei zwar ihren Standpunkt behauptet, aber nichts Konkretes erreicht zu haben. Im Februar 1935 taten sie das ihrige, um Demonstrationen gegen die Übergriffe eines neuen Heidentums zu organisieren, und im April fand Meiser mutige Worte gegen die neue Ideologie des „Neuheidentums“, welche die Hitlerjugend ergriffen hatte. 1937 wurde Meiser … ausdrücklich verboten, Thüringen und Sachsen zu besuchen, wo das Heidentum größere Fortschritte gemacht hatte. Wurm seinerseits wurde in einen neuen Kleinkrieg in Württemberg verwickelt, als im Jahre 1938 mehrere Pfarrer seiner Kirche verprügelt, öffentlich beleidigt und sogar beschossen wurden, wobei der Pfarrer von Oberlenningen schwer verletzt wurde und der Pfarrer von Böckingen die Fensterscheiben seines Hauses einbüßte. Im Juli 1940 protestierte Wurm beim Innenministerium gegen den organisierten Mord an Geistesschwachen und Epileptikern. Er stützte sich dabei auf einen zweifellos zutreffenden Bericht, dass in der Heilstätte Grafeneck mit ihren hundert Betten täglich durchschnittlich 43 Kranke ermordet wurden. 1941 kämpfte Wurm um die Abwendung eines Verbots von kirchlichen Zeitungen und Zeitschriften. Gegen Ende desselben Jahres und wieder 1942 schrieb er an Hitler persönlich, um gegen nationalsozialistische Eingriffe in das Kirchenwesen zu protestieren.

Seit 1942 versuchten sowohl Wurm als auch Meiser die insgesamt 340.000 getauften Juden zu retten [Nach einer Berichtigung von Pfr. i.R. Paul Fischer / Fürth sollen es „nur“ ca. 100.000 Juden gewesen sein; Anm. R.Meiser], deren Bekehrung sie einen Glaubensakt nannten, der die christliche Gemeinde insgesamt angehe, zu der sie – einmal getauft – gehörten und von der sie nicht ausgeschlossen werden könnten…

1944 erklärte Wurm die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten für ein Urteil Gottes angesichts der Dinge, die man den Juden angetan hatte. Die Gestapo suchte ihn auf, aber überraschenderweise passierte im Moment nichts weiteres. Am 3. März 1944 verwarnte der Minister und Chef der Reichskanzlei Dr. Hans Lammers Wurm „letztmalig“, vor allem, weil seine Kritik an der nationalsozialistischen Kirchenpolitik zuerst in Schweden, dann auf englisch, französisch und in anderen Sprachen nachgedruckt worden war.

Wurm und Meiser überlebten die Nazizeit. Man wird es verzeihlich finden, dass ich hier über ihr Bemühen, Hitler Widerstand zu leisten, einige bloße Tatsachen referiert habe, denn diese beiden Männer und ihre treuen Helfer in Süddeutschland sind außerhalb Deutschlands einfach unbekannt. Naturgemäß war diese im Rahmen des Traditionellen bleibende, sozusagen „orthodoxe“ Art des Widerstandes der evangelischen Kirchen nicht übermäßig durchschlagend. Aber was waren die Ziele, die sich Männer wie Wurm und Meiser setzen mussten? Sie glaubten, dass ihre Stellung und ihre Verantwortung ihnen nicht erlaube, das Martyrium zu suchen. In ihren Augen war ihre Hauptaufgabe, sicherzustellen, dass die Predigt von Gottes Wort nicht aufhörte. Es musste sozusagen eine oberirdische Rückzugstellung geben, die zu den Katakomben der geistlichen Existenz führen konnte.

Man kann mit guten Gründen sagen, dass Wurm und Meiser scheiterten, aber man kann nicht sagen, dass sie nicht wieder und wieder versucht hätten, ihr Ziel zu erreichen, bis in die letzten Tage des Naziregimes hinein. Es war ein konkretes Ergebnis ihrer hartnäckigen Weigerung, aufzugeben, dass nach 1945 Vernunft und Verlässlichkeit in den süddeutschen evangelischen Glaubensgemeinschaften wieder zu blühen begannen. Schwaben ist noch einmal zu einer Zitadelle fortschrittlichen politischen Denkens in Deutschland geworden, und die bayerischen Protestanten haben eine führende Rolle bei der Entstehung des westdeutschen Staates gespielt. Wurm und Meiser sind also vielleicht nicht völlig gescheitert.“

Nur durch die oftmals unverstandene und kritisierte „Mit dem Feind – Gegen den Feind-Politik“ war es Hans Meiser gelungen, einerseits die ihm anvertraute Kirche vor den Nationalsozialisten zu retten und andererseits seiner Verpflichtung zur Nächstenliebe Andersgläubigen gegenüber gerecht zu werden.

Nach dem Krieg gelang es ihm, die zerrissenen deutschen lutherischen Landeskirchen zu vereinigen und für 700.000 Flüchtlinge aus dem Osten eine neue Heimat zu schaffen. Dass er dabei die ehemaligen Pfarrer der Deutschen Christen wieder aufnahm, geschah nicht aus Sympathie zu ihnen, sondern Meiser verstand sein Handeln als Zeichen der Vergebung. Es war dies geradezu eine neutestamentliche Art, mit Schuld umzugehen. Zudem musste die praktische Arbeit des Wiederaufbaus und der Integration der Flüchtlinge geleistet werden, was mit der verbliebenen Zahl der Pfarrer sicherlich nicht möglich gewesen wäre. Völlig realitätsfern ist deshalb auch der Vorwurf, Meiser sei mit allen Kräften gegen eine Entnazifizierung der Pfarrerschaft vorgegangen.

Im Jahr 1955 trat Hans Meiser mit Rücksicht auf sein Alter von seinem Amt zurück. Im selben Jahr verlieh ihm Bundespräsident Theodor Heuss das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, nachdem er als Landesbischof schon 1952 mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der BRD ausgezeichnet worden war. Am 12. Juni 1956, vier Tage nach Meisers Tod, erklärte der Münchner Oberbürgermeister Thomas Wimmer in einer Stadtratssitzung, dass die Stadt München „dem verstorbenen Landesbischof für alle Zeiten ein ehrendes Andenken bewahren“ wird. Gleichzeitig kündigte er die Benennung einer Straße in München nach dem Verewigten an. Die Städte Nürnberg, Ansbach (deren Ehrenbürger Meiser war), Erlangen, Bayreuth und die Gemeinde Pullach taten es München gleich. Unter den zahlreichen Kranzspenden und Beileidsschreiben zum Tode Hans Meisers ragen die von Bundeskanzler Konrad Adenauer, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, Landtagspräsident Hans Ehard und Oberbürgermeister a.D. Karl Scharnagl besonders hervor.

Die Kritiker Hans Meisers machen es sich leicht, da sie zum Großteil die Zeitläufe nicht in ihr Urteil mit einbeziehen. Der spätere Landesbischof Hermann von Loewenich sagte einmal zu Rudolf Meiser, dem jüngsten Sohn Hans Meisers: „Wenn ich damals Bischof gewesen wäre – ich wüsste heute nicht, wie ich mich verhalten hätte“.
Opposition in einer Diktatur ist von jener in einer Demokratie, in der man ungestraft jeden Politiker der Lächerlichkeit preisgeben darf, grundverschieden. Die herausragende Studie von Michael Hesemann „Hitlers Religion“ (Pattloch Verlag, München 2004) hat aufgezeigt, dass nach dem Holocaust an den Juden auch die Vernichtung des Christentums geplant war („Ohne Juda, ohne Rom, wird gebaut Germaniens Dom“, lautete der NS-Slogan), was schließlich durch die deutsche Niederlage und die Befreiung vom Faschismus verhindert wurde. Mit diesem Hintergrundswissen erscheint das Handeln von Landesbischof Hans Meiser heute
in einem anderen Licht: Er musste so handeln, um die evangelische Kirche und damit ihre Mitglieder nicht nur vor der kircheninternen Zersplitterung, sondern vor allem vor der Vernichtung durch die Nazis zu retten.