Verhältnis zur Staatsgewalt
Kurz nach dem I. Weltkrieg wurde in München wie auch in anderen deutschen Städten die Räterepublik ausgerufen. Gerade in München war sie bei weiten Teilen der Bevölkerung verhasst. Man befürchtete eine „Russifizierung“ der Gesellschaft, d.h. eine bolschewistische Diktatur, wie sie im Programm der Revolutionäre geplant war. Das war für die Bürger, die meist aus der politischen und militärischen Ordnung des Bismarck-Reiches kamen, untragbar. Am Dienstag nach Ostern 1919 wurde Meiser, damals noch Pfarrer in München-Sendling, von den Aufständischen des spartakistischen Räteregimes aus dem Bett geholt, verhaftet und zur Polizeiwache gebracht. Es gelang aber später einer Gemeindeschwester, die Frau eine Kommandoführers zu veranlassen, auf ihren Mann einzuwirken und Meiser, von dem kein Geld erpresst werden konnte, freizulassen. Meiser selbst schreibt dazu in einem Bericht: „Man erklärte mir, ich sei als Geisel zum Schutz der Räterepublik festgenommen; mir ein Unrecht nachzuweisen sei nicht nötig, es genüge, dass ich Geistlicher sei, die Räterepublik erachte die Geistlichen für gefährlich, da das ganze System Kirche gegen die Räterepublik sei.“ Dies war Hans Meisers erste unmittelbare, physisch spürbare Begegnung mit der Staatsgewalt, die vermutlich traumatisch auf ihn wirkte, wie es auch der Pfarrer und Autor Armin Rudi Kitzmann in einem Filmbeitrag des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1999 sieht.
Als Lutheraner hatte Meiser ohnedies eine sehr besondere Auffassung vom Staat an sich, die auf der Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers beruht und die hier erwähnt werden muss, will man sein Verhältnis zum NS-Staat verstehen. Der frühere Kreisdekan von Nürnberg, Oberkirchenrat Julius Schieder, erklärt diese Lehre in seinem Buch „Wächter und Haushalter Gottes“ so: „Das lutherische Bekenntnis lehrt: Gott will der gefallenen Menschheit helfen auf eine doppelte Weise: Er gibt ihr das Reich der Obrigkeit und schenkt ihr das Reich der Gnade. Unter Obrigkeit versteht das Luthertum alles, was irgendwie für Zucht und Ordnung da ist. Dazu gehören auch die Eltern. Auch die Lehrer und Lehrherrn. Auch der Staat. Im Reich der Obrigkeit wird befohlen, gewarnt, gestraft. Im Reich der Gnade wird vergeben… Unser Bekenntnis sieht in der Obrigkeit und damit im Staat eine Notordnung. Um der Not willen – sagen wir es noch deutlicher – um der Zuchtlosigkeit der Menschen willen muss es den Staat geben. Ohne Staat würden wir ‚einander auffressen wie die wilden Tiere‘ (Luther). Aber es ist eine Notordnung Gottes. Es ist Gottes Barmherzigkeit, dass er Instanzen in das Leben hineinstellt, die für Zucht und Ordnung da sind… Das lutherische Bekenntnis gibt damit nicht etwa den Staat frei, dass er handeln könnte nach seiner Willkür. Es weiß, dass auch der Staat dem untertan ist, dem Gott alles unterstellt hat (Kol. 1). Aber es weiß auch, dass Gott von uns, wenn wir ‚im Stand der Obrigkeit‘ sind, etwas anderes fordert, als wenn wir uns im Stand der ‚christlichen Existenz‘ befinden. Dem Christen gehört das Wort der Bergpredigt. ‚Widerstehet nicht dem Übel‘. Darum darf das Christentum nicht mit Gewalt, nicht mit dem Schwert verteidigt werden. Darum gibt es keinen ‚heiligen‘ Krieg, keinen ‚Kreuzzug‘.“ Im Artikel 16 der „Confessio Augustana“ wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das weltliche Regiment seine Macht mit christlicher Liebe ausüben soll. „Widerspricht das Gebot der Obrigkeit dem Willen Gottes, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Schieder, S. 69 f.).
Am 4.5.1933 wurde Oberkirchenrat Meiser von der Landessynode einstimmig zum Kirchenpräsidenten – wie es damals noch hieß – der Bayerischen Landeskirche gewählt. Gleichzeitig wurde ihm der Titel „Landesbischof“ verliehen. Er wurde Nachfolger von Kirchenpräsident D. Veit, der auf eigenen Wunsch aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten wollte und nicht – wie gelegentlich behauptet wird – auf Druck bestimmter Kreise der Pfarrerschaft. Am 13.4.1933 erklärte der Evangelisch-Lutherische Landeskirchenrat: „Kirchenpräsident D. Veit, der seit 1917 an der Spitze unserer Kirche steht, hat aus Rücksicht auf seine Gesundheit und um die Leitung der Kirche jungen Händen anzuvertrauen, sein hohes Führeramt niedergelegt.“ Hierzu schreibt Ursula Kastenhuber in ihrer Untersuchung „Die protestantische Kirche im Nationalsozialismus in Bayern“: „Entgegen mancher öffentlich vertretenen Meinung verdrängte D. Meiser D. Veit also nicht aus seinem Amt. Dazu war Meiser zu sehr Persönlichkeit. Die Achtung vor der Person Meisers findet ihren Beweis auch darin, dass er als Bischof seinen ‚Gegner und Gegenkandidaten‘ Breit, der mehr der linken und bekennenden Front angehörte und ein naher Freund W. Niemöllers war – selbst ein erklärter Feind Meisers – und der Meiser wegen seiner Herkunft aus dem ‚Kleinbürgertum‘ verachtete, zu seinem Stellvertreter machte“ (Kastenhuber, S. 47).
Die Landessynode, die Meiser am 4. Mai zum Landesbischof berief, hatte offensichtlich ein Gespür für die kommenden entscheidungsschweren Zeiten. Darum gab sie dem neugewählten Bischof ein Instrument in die Hand, mit dem er rasch reagieren können sollte: das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“. Dieses bot ihm die Möglichkeit, in Abstimmung mit dem Landeskirchenrat und dem Landessynodalausschuss kurzfristig Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen. Noch nie hatte ein evangelischer Bischof eine solche Vollmacht besessen. Missbraucht hat Meiser diese Vollmacht nie. Kirchenarchivdirektor Dr. Helmut Baier merkt dazu in seinem Werk „Kirche in Not“ an: „Die Landeskirche konnte es als eine Fügung Gottes betrachten, dass sie sich einen verantwortungsbewussten Führer erkoren hatte, der unter dem Wort Gottes stehend Bibel und Bekenntnis als seine Grundlagen erkannt hat.“
Während Partei, Staat und Wehrmacht mit großem Gepränge an der Einsetzung des Bischofs in der Nürnberger St. Lorenz-Kirche am 11.6.1933 teilnahm, um ihre Nicht-Feindlichkeit zu demonstrieren, ließ das Regime schon im November 1933 bei der berühmt gewordenen Sportpalastkundgebung in Berlin die ideologische Maske fallen, als der Vertreter der Deutschen Christen, Dr. Krause, unter frenetischem Beifall der Menge die Forderung nach einer Deutschen Volkskirche ohne das Alte Testament mit seinen „Viehhändler- und Zuhältergeschichten“ und ohne die „Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus“ erhob. Das war gewissermaßen der Startschuss für den beginnenden Kirchenkampf. Meiser legte sofort öffentlichen Widerspruch gegen diese Irrlehre der Deutschen Christen ein. Mit Reichsbischof Ludwig Müller gab es daraufhin heftige Auseinandersetzungen. Dennoch unterstellte sich Bischof Meiser mit den Bischöfen Marahrens von Hannover und Wurm von Württemberg am 25.1.1934 in einer Audienz bei Hitler von neuem diesem Bischof. Es war der bitterste Tag in Meisers Amtsleben. Nach Hause gekommen, erkannte er sogleich seinen Fehler, bereute ihn schmerzlich und schrieb in einem Rundbrief an die bayerischen Pfarrer: „Wir mussten einsehen, dass wir falsch gehandelt haben, und können uns nicht mehr an die dortige Erklärung gebunden wissen.“ Der Landesbischof weiß sich im Innersten erfüllt von der Verantwortung für die ganze Kirche und auch für das Volk, in dem er lebt.
Wenn man im Kirchenkampf einen politischen Aspekt sehen möchte, dann ist es die Sorge um die Zukunft des Volkes, eine, wie sich herausstellen sollte, nur allzu berechtigte Sorge. Meiser kennt die Gewissensnot vieler Gemeinden und Pfarrer. Darum ist für ihn „der Ruf zu Gott des Bischofs höchste Aufgabe“.
Während des Jahres 1934 wurden die meisten deutschen Landeskirchen „gleichgeschaltet“, d.h. der von Müller geleiteten Reichskirche eingegliedert unter Verlust ihrer rechtlichen Selbständigkeit. Dies war ein offener Rechtsbruch. Im September sollten die Landeskirchen Württemberg und Bayern an der Reihe sein. Die heiße Phase des Kirchenkampfes begann in Bayern mit einem Artikel des stellvertretenden Gauleiters Holz in Nürnberg. Dieser Artikel war Aufmacher von Julius Streichers „Fränkischer Tageszeitung“. Claus-Jürgen Roepke schreibt dazu in „Protestanten in Bayern“ (S. 406 f):
„Unter der Überschrift Fort mit Landesbischof Meiser! hieß es in den Schlagzeilen: Er ist treulos und wortbrüchig – Er handelt volksverräterisch – Er bringt die evangelische Kirche in Verruf. Im einzelnen beklagte sich der Verfasser dann über das offene und geheime Wühlen gegen Staat und nationalsozialistische Weltanschauung… Der Schuldige an diesen Zuständen ist der Landesbischof D. Meiser. Er ist der Haupthetzer. Jeder ehrliebende, charakterfeste deutsche Mann kann ihm nur mit Verachtung begegnen… Er ist treulos. Er ist wortbrüchig. Er ist unchristlich. Er hat volksverräterisch gehandelt. Er hat gehandelt wie Judas Ischariot. Dieser verriet seinen Herrn und Meister mit einem Kuss, Landesbischof D. Meiser verriet seinen Führer mit einem Händedruck. Anschließend fordert Holz die sofortige Entfernung des wortbrüchigen und treulosen Landesbischofs und spricht Müller die unbedingte Autorität über die gesamte evangelische Kirche Deutschlands zu.
Dass es sich bei diesem Artikel um eine gezielte und offizielle Aktion handelte, bewies allein schon der Verfasser und das Blatt, in dem er schrieb. Noch deutlicher wurde das einige Tage später, als über Nacht rote Plakate in der ganzen Stadt angebracht wurden, die ebenfalls die Aufschrift trugen: Fort mit Landesbischof Meiser! Schließlich wurde der Holz’sche Artikel noch als Flugblatt nachgedruckt und verteilt.“
Was hatte zu dieser Hetzkampagne geführt? Die Ursachen dafür findet man ein halbes Jahr zuvor. Am 13.3.1934 gewährte Hitler den Bischöfen Wurm und Meiser eine Unterredung. Die Bischöfe legten dar, warum sie eine Zusammenarbeit mit dem NS-Reichsbischof Müller ablehnten. Hitler antwortete mit Vorwürfen und erklärte, er werde Müller nicht abberufen. Darauf Meiser: „Wenn der Führer bei seinem Standpunkt verharren will, bleibt uns nicht anderes übrig, als seine allergetreueste Opposition zu werden.“ Hitler geriet in maßlose Erregung und schrie: „Was sagen Sie? Allergetreueste Opposition? Feinde des Vaterlandes, Verräter des Volkes sind Sie.“
Dennoch konnten die beiden Bischöfe unbehelligt nach Hause fahren. Es sollte Unruhe in der Bevölkerung vermieden werden. Aber im September hielt man in der NSDAP die Zeit für gekommen, die „Volksverräter“ auszuschalten. Zunächst erschien oben erwähnter Artikel, und am 11.10.1934 drang Ministerialdirektor Jäger aus Berlin mit Begleitern in das Dienstgebäude des Landeskirchenrates in München ein und erklärte, es müsse dem „Zustand der Meuterei und Rebellion“ ein Ende gemacht werden. Die anwesenden Oberkirchenräte „beurlaubte“ er und ließ sie einige Stunden gefangen halten.
Bischof Meiser war zu einem Bekenntnisgottesdienst nach Rothenburg o. d. T. gefahren. Dort predigte er vor einer riesigen Gemeinde über das Bibelwort „Wir sind nicht von denen, die da weichen“ (Hebr. 10,39). Am nächsten Morgen erschien in München die Gestapo in seiner Wohnung und stellte ihn unter Hausarrest. Tag und Nacht wurde er von Polizisten überwacht. Das ihm vorgelegte Abdankungsschreiben zu unterzeichnen, weigerte er sich, und die 1400 evangelischen bayerischen Pfarrer ließ er wissen: „Bin ich auch meiner Freiheit beraubt, so bin ich doch nicht meiner Entschlossenheit und meiner Zuversicht beraubt.“
Hier der genaue Wortlaut seines Briefes aus der Haft:
„Liebe Herren und Brüder im Amte!
Sie stehen mit mir noch unter dem ersten schmerzlichen und erschütternden Eindruck des schweren Unrechts, das durch den Gewaltakt der Reichskirchenregierung an unserer heimatlichen Kirche verübt worden ist. Noch nie, seit wir unserer Kirchen dienen, ist solches Leid über sie gekommen und wir ringen darum, es uns nicht zur Glaubensanfechtung werden zu lassen. Wir nehmen, was jetzt über unsere Kirche ergeht, als eine väterliche Züchtigung aus Gottes Hand und wollen nicht aufhören, Gott um den verborgenen Segen solcher Züchtigung für uns und unsere Gemeinden zu bitten.
Von dem beschrittenen Weg kann uns die Gewaltanwendung und der Rechtsbruch der Reichskirchenregierung umso weniger abbringen, als ja unser Kampf gerade den Gewaltmethoden und den Rechtsverletzungen in der Kirche gilt. Auch sonst ist nichts geschehen, was uns gestattete, das Ziel unseres bisherigen Ringens als erreicht anzusehen. Die Beschwerden gegen die ungeistliche Haltung der Reichskirchenregierung und alle die ernsten Bedenken, die wir vom lutherischen Bekenntnis her gegen das restlose Aufgehen unserer Landeskirche in eine nicht vom lutherischen Bekenntnis bestimmte Gesamtkirche haben müssen, bestehen unvermindert fort. Wir müssten alles, was wir bisher grundsätzlich und mit hohem Ernst gegen Geist, Ziele und Methoden der Reichskirchenregierung gesagt haben, zur Lüge machen, wollten wir dem allem auf einmal kein Gewicht mehr beimessen. Dass wir durch die Maßnahmen der Reichskirchenregierung genötigt sind, unseren Kampf unter erschwerten Umständen zu führen, entbindet uns von der Pflicht des Kampfes nicht. Gott hat noch nie seiner Kirche wahrhafte Erneuerung ohne Kampf geschenkt. Ich bitte sie, liebe Herren und Brüder nur darum, dass Sie in strenger Zucht über sich und Ihre Gemeinden wachen, dass der Kampf als ein geistlicher Kampf allezeit mit geistlichen Waffen geführt wird, und dass Sie alles unterbinden, was auch nur den Anschein erwecken könnte, als ginge es in diesem Kampf außer um rein kirchliche auch um politische Ziele.
Im Übrigen aber muss gerade jetzt die Ernsthaftigkeit unseres Wollens und die Unbeugsamkeit unserer Haltung offenbar werden. In Fragen des Glaubens und des Gewissens gibt es kein Paktieren. Hier gilt nur der klare Befehl Gottes, wenn wir uns nicht selbst verwerflich machen wollen.
Darum, meine lieben Brüder: Stehet fest im Glauben, seid männlich und seid stark. Bedenket, dass wir unseren Kampf vor den Augen des ewigen Erzhirten führen, der selbst die Hitze der Anfechtung erfahren und die Pein des Kreuzes erduldet und seinen Jüngern nicht gestattet hat, dass sie über ihrem Meister seien. War sein Weg ein Weg der Anfechtung und der Bedrängnis, so ist es uns eine Ehre, ihm auf diesem Weg zu folgen.
Ich kann Sie nicht aus dem mir gelobten Gehorsam und der Treue der Gefolgschaft entlassen. Ich würde damit denen recht geben, die in meiner Abwesenheit mit Gewalt in unseren Landeskirchenrat eingebrochen sind, und würde alle Begriffe von Treue und Glauben in Ihnen erschüttern. Es muss sich im Gegenteil gerade jetzt erweisen, dass das, was wir uns gegenseitig gelobt haben, mehr als Worte gewesen sind. So weit meine Person in Frage kommt, kann ich Sie nur aufs Neue dessen versichern, dass mich gerade das Erleben dieser Tage in meiner Überzeugung erst recht gefestigt und in meinem Beschluss bestärkt hat, mich für die große und heilige Sache, um die es geht, bis zum letzten einzusetzen.
Dass ich als ein der Freiheit Beraubter Ihnen schreiben muss, kann ich nicht verschweigen. Aber bin ich auch der Freiheit beraubt, so bin ich doch nicht meiner Entschlossenheit und meiner Zuversicht beraubt. Möchte sich an Ihnen das Wort Phil. 1,14 erfüllen, dass viele Brüder in dem Herrn aus meinen Banden Zuversicht gewinnen und desto kühner werden, das Wort zu reden ohne Scheu.
Viele Worte stärkender Ermunterung, viele Zeichen treuer Anhänglichkeit sind mir in den letzten Tagen zugegangen. Ich danke für das alles herzlich. Lassen Sie uns im Gebet für unsere Kirche nicht erlahmen; Drohungen sollen uns nicht einschüchtern, Bedrückungen nicht mürbe machen. Wenn nur Gottes Wille geschieht und Seine Sache zum Ziele kommt!
Auf, Christen, die ihr ihm vertraut,
Lasst euch kein Droh’n erschrecken!
Der Gott, der von dem Himmel schaut,
Wird uns gewiss bedecken.
Der Herr, Herr Zebaoth
Heil über sein Gebot,
Gibt uns Geduld in Not
Und Kraft und Mut im Tod.
München, den 16. Okt. 1934
Landesbischof D. Meiser“
Das brutale Vorgehen des Kommissars Jäger löste eine so gewaltige Protestwelle in Stadt und Land aus, dass die NS-Machthaber – ein seltener Fall – einen Rückzieher machten. Meiser wurde staatlicherseits als rechtmäßiger Landesbischof wieder anerkannt und konnte am 1. November mit seinen Mitarbeitern in das Dienstgebäude zurückkehren, nachdem der Hausarrest aufgehoben worden war.
Es wird Hans Meiser oft der Vorwurf gemacht, dass er im Jahre 1933 der neuen Regierung Vertrauen entgegengebracht hatte. Man darf aber nicht vergessen, dass die feierliche Regierungserklärung Hitlers, die er als neuer Reichskanzler am 23.3.1933 in der Berliner Kroll-Oper verkündet hatte, Vertrauen erweckende Formulierungen enthielt. „Die nationale Regierung sieht im Christentum“ – so war zu hören – „die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Lebens unseres Volkes… Die Rechte der Kirchen werden nicht geschmälert, ihre Stellung zum Staat nicht geändert.“ Meiser, der aus Furcht vor dem Bolschewismus, dessen Vordringen zweifellos die Zerschlagung des gesamten Christentums zur Folge gehabt hätte, wie viele andere zunächst auf die neue Regierung setzte und nur zögernd bereit war, Hitler und seinen Helfershelfern Verlogenheit und verbrecherische Schandtaten zuzutrauen, sah sich bei seiner Absetzung und Inhaftierung zum zweiten Mal mit der Staatsmacht konfrontiert – und dies immer unter der Prämisse der „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers.
Durch seine unnachgiebige Haltung hatte Bischof Meiser Adolf Hitler die einzige innenpolitische Niederlage beigebracht, wie Landesbischof Wurm später urteilte. Hitler vergaß ihm dies nicht. Am 15.6.1938 ließ er die eben erst renovierte Mutterkirche der evangelischen Gemeinde, St. Matthäus in München, abreißen. (Fünf Tage zuvor war bereits die Hauptsynagoge abgerissen worden). Für Meiser war dies eine erneute Begegnung mit der Staatsgewalt, die wohl nunmehr auf Grund der bisherigen Erfahrungen zu seiner umstrittenen „Mit dem Feind – Gegen den Feind-Politik“ führte. Diese bestand zunächst darin, nicht öffentlich in Opposition zum Staat zu gehen, um die noch intakte Landeskirche nicht erneut der Gefahr der Zerschlagung auszusetzen. Aber es kam immer wieder zur Auflehnung gegen staatliche Anordnungen. Davon zeugen die 2306 Strafmaßnahmen, die das Regime von 1933 bis 1945 gegen bayerische Pfarrer verhängte. Im Einzelnen handelte es sich dabei um: Vorladung, Verhör, Verwarnung, Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Redeverbot, Aufenthaltsbeschränkung, Polizeihaft, staatsanwaltliche Vernehmung, gerichtliches Verfahren, Untersuchungshaft, Strafbefehl, Geldstrafe, Gefängnisstrafe, Entziehung des Religionsunterrichts, Vorladung vor den Kreisleiter, Beanstandung durch Dienststellen der Partei, Parteigericht, Beanstandung durch die Reichspressekammer oder Ausschluss aus ihr. Ferner kam es zum Verbot von Bibelstunden oder anderen kirchlichen Versammlungen und zu Angriffen mit Beschimpfungen und Bedrohungen durch die Presse. Eine weitere staatliche Zwangsmaßnahme war auch die Überführung der Evangelischen Jugend in die Hitler-Jugend. Man kann angesichts dieser Häufung von Schikanen, die allesamt bestätigt sind, wohl kaum behaupten, die Kirche habe nur geschwiegen und keinen Widerstand geleistet.
Meiser musste daher so handeln, wie er es in seinem Wort von der „allergetreuesten Opposition“ bereits hatte anklingen lassen. Der Abriss von St. Matthäus war ihm Warnung genug. Auf der anderen Seite fürchtete er schon vor 1933 die Übergriffe eines militanten Kommunismus. So war z.B. bereits 1930 der Ostersonntag von den Kommunisten zum „Antikirchentag“ ausgerufen worden, und bei vielen Deutschen lebte noch die Erinnerung fort an die grauenhaften Christenverfolgungen in den baltischen Ländern, in deren Verlauf es zu massenhaften Tötungen von orthodoxen Priestern, aber auch evangelischen Pfarrern und vielen Gemeindemitgliedern gekommen war. Man erzog die Kinder in der Vorstellung, der Bolschewismus sei „das absolut Böse“. Dann kam Hitler, der dieser kirchenfeindlichen Macht den Kampf ansagte – freilich aus einem ganz anderen Grund: Der Nationalsozialismus fürchtete und hasste alles, was international organisiert war; dazu gehörten für ihn vor allem der Kommunismus, das Judentum und (vorerst insgeheim) auch die Kirche.
Unter diesem Aspekt ist sicher auch die Kanzelabkündigung zum Erntedankfest und zum Polenfeldzug 1939 zu verstehen. Dabei muss festgestellt werden, dass der Begriff „reiche Ernte“, der hierin gebraucht wird, sich nicht auf die gefallenen Polen bezieht, sondern auf die Rückkehr zahlreicher ehemaliger evangelischer Gemeinden im Posener Gebiet und im Warthegau in die evangelische Kirche. Diese Gemeinden waren durch den Vertrag von Versailles bis zum Polenfeldzug eben nicht mehr Teil des Deutschen Reiches, dem sie ursprünglich angehört hatten. Der Text dieser Kanzelabkündigung stammte im Übrigen nicht aus der Feder Meisers (siehe dazu das Kapitel „Fazit“), was von seinen Kritikern gern übersehen wird.
Zur Taktik Meisers gehörte mit Sicherheit auch, sich nicht gegen die von staatlicher Seite verordneten Zwangsmaßnahmen wie das Läuten der Glocken nach dem Polenfeldzug oder die Einführung des Hitlergrußes im Religionsunterricht zu stellen. Man wird diese Taktik verstehen, wenn man bedenkt, welche Nadelstich-Politik der NS-Staat schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs betrieb.
Zunächst wurden die Verbreitung der Bibel und der Vertrieb religiöser Schriften verboten (durch eine Verfügung der Preußischen Geheimen Staatspolizei). Dann gab es z. B. Fragebogen der BDM-Führerinnen-Schule Oberhessen (16.1.1938), in denen es u.a. folgende Fragen zu beantworten galt: „Ist Gott oder Hitler größer, mächtiger und stärker? Wem soll man danken: Gott oder Hitler?“ Man kann sich vorstellen, in welchen Gewissensdruck die jungen Menschen, die das Leben noch vor sich hatten, dabei gerieten. Wenn sie sich zu diesen Fragen im Sinne der damaligen politischen Führung falsch äußerten, riskierten sie erhebliche Nachteile und Bedrängnisse.
Zu den staatlichen Schikanen gehörte auch das Aussetzen evangelischer Morgenfeiern und Andachten im Rundfunk. Während des Krieges hatte auf Veranlassung des Reichspropagandaministeriums jede Verbindung der Heimatgeistlichen mit den Soldaten im Feld zu unterbleiben. In der Schule war das gemeinsame Gebet zu unterlassen, kirchlicher Bilderschmuck und Kruzifixe mussten aus den Klassenzimmern entfernt werden (Erlass des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus von 1941). Der Grunderwerb für kirchliche Zwecke wurde verboten. Für Studenten der Theologie gab es keinen Hörgeld-Erlass und keine Hörgeld-Ermäßigung. Bei den Gedächtnisfeiern für gefallene Studenten wurden Theologiestudenten nicht genannt. Geistliche sollten vom Roten Kreuz ausgeschlossen werden. Vereinzelt kam es auch in Bayern und Hessen zu Überfällen auf evangelische Pfarrhäuser.
Meiser wusste, dass weiterer öffentlicher Protest mit seiner neuerlichen Inhaftierung geendet hätte und dass dann gar nichts mehr zu erreichen gewesen wäre. So entschied er sich für den stillen Widerstand, für den Spagat zwischen Kirche und Staat. Es ging ihm bei dieser Einstellung nicht nur um die Rettung der Kirche, sondern auch um die Verteidigung des Christentums und des lutherischen Bekenntnisses. Sollte die Wirksamkeit des Widerstandes und des Zeugnisses effektiv sein, bedurfte es einer einigermaßen in sich geschlossenen Kirche, weshalb sich Meiser auch um die Erhaltung der äußeren (rechtlich garantierten) Form der Kirche zu bemühen hatte.
Die „intakten“ Kirchen wollten ja nicht nur die Erhaltung eines status quo oder status quo ante, sondern auch die Aufrichtung eines „Bollwerks“ gegen die Verfälschung des Christentums. Zahlreiche Verlautbarungen der Kirche in der damaligen Zeit sprechen nicht nur von den Angriffen auf Kirche und Bekenntnis, sondern äußern auch in bewegten Worten ihre tiefe Sorge um den inneren Zustand (und damit indirekt auch um die Zukunft) des deutschen Volkes.
Wer heute aus der Sicht seiner ungefährdeten Existenz heraus der Meinung ist, Meiser hätte dieses Taktieren lieber lassen sollen und wäre besser zum Märtyrer der Kirche geworden, sagt damit implizit aus, ein toter Meiser, von den Nazis umgebracht oder im KZ verendet, wäre ihm lieber. Dass es dazu nicht kam, ist ohnehin als Fügung zu betrachten, bedenkt man die möglichen Folgen seiner öffentlichen Angriffe auf das herrschende Regime, die er zwar in bildhaft verschlüsselter, aber dennoch transparenter Form vortrug. Hierzu zwei Beispiele: In seiner Osterpredigt am 25.4.1943 spricht Landesbischof Meiser folgende Worte: „Alle Fragen, welche die Menschheit von Anbeginn bewegt haben, werden in diesem gewaltigen Gesamtgeschehen neu zur Entscheidung gestellt. In diesem gigantischen Ringen geht es wahrscheinlich um mehr als um die Verschiebung von Ländergrenzen oder um die Verlagerung von Machtpositionen oder um die Neuverteilung der Rohstoffe. Es geht um die entscheidenden Grundfragen der Menschheit. Soll die Barbarei oder die Kultur triumphieren, der Massenwahn oder die gesunde Vernunft, der Nationalismus oder die Einheit der Menschen, die Hysterie oder das sichere, freudige Lebensbewusstsein, die Machtausübung und Überorganisierung oder das innerlich Gewachsene, die Materie oder der Geist, die Weltfrömmigkeit oder der Gottesglaube? Schließlich schießen alle Fragen in die eine große letzte Entscheidung zusammen: Untergang oder Auferstehung, Vernichtung oder Neuwerdung, Tod oder Leben.“
Am 22.1.1945 schreibt Hans Meiser an seine Amtsbrüder: „Die Entgottung der Welt musste mit ihrer Entseelung bezahlt werden, der Triumph der Technik mit der Todesstarre der Mechanisierung, die Entfesselung der Instinkte mit der Sturmflut der Leiden. Das ganze Gefüge der Welt ist in Verwirrung geraten, in Hass und Feindschaft bekämpfen sich die Völker bis zur völligen Vernichtung. Ein grauenhaftes Fazit des Unglaubens! Der Weg des auf sich selbst gestellten, in Stolz und Hochmut sich selbst genügenden Menschen ist zu Ende gegangen. Die ‚Stadt in den Wolken‘, die er bauen wollte, liegt in Trümmern. Das ist Gottes Antwort auf die Selbstverherrlichung des Menschen.“
Betrachtet man Meisers Handeln unter dem Aspekt der „Mit dem Feind – Gegen den Feind-Politik“, wird ersichtlich, dass es zu seiner Haltung keine Alternative geben konnte, wollte er das große Ziel, das er hatte, erreichen. Es war die Absicht Hans Meisers, die ihm anvertraute Kirche über diese dunkelste Zeit der Weltgeschichte hinweg zu retten. „Dilexit Ecclesiam“ steht auf seinem Grabstein zu lesen, „Er liebte seine Kirche“.